Lehnrichter Pietsch und die Waldgeister der Massenei

In einem Hause, das dem Großröhrsdorfer Lehnrichter Pietsch gehörte, wohnte ein armer Schuhmacher mit seinen beiden Kindern Hans und Grete. Streng hielt Pietsch darauf, dass sein Mieter den Hauszins pünktlich zahlte. Eines Tages erkrankte der Schuhmacher schwer, und er konnte wochenlang nichts verdienen. Da kam große Not über ihn, und er bat den Lehnrichter, ihm doch den fälligen Hauszins zu stunden. Doch Pietsch wollte davon nichts wissen und ließ ihm sagen: „Bezahlst du nicht zum bestimmten Tage, dann werfe ich dich in den Hungerturm!“ Und so geschah es auch. Laut weinend liefen die beiden Kinder zum Lehnrichter und baten fußfällig für ihren Vater um Erbarmen. Doch Pietsch ließ sich nicht erweichen und wies ihnen die Tür. Trostlos standen nun die Kinder draußen vor dem Lehngericht. „Weißt du was?“ sagt Grete. „Jetzt gehen wir hinaus in die Massenei und erzählen es der Bornematzen!“ Als sie mitten im Walde waren, riefen sie laut: „Bornematzen! Bornematzen!“ Da trat plötzlich eine graugekleidete Frau, gestützt auf einen Krückstock, aus dem Busche. Die sprach zu den erschrockenen Kindern: „Warum ruft ihr mich? Wisst ihr denn nicht, dass ich Ruhe haben will vor den bösen Menschen?“

„Ach, gute Frau Bornematzen! Wir sind doch gar nicht böse. Wir wollen dir nur sagen, der hartherzige Lehnrichter Pietsch hat unsern guten Vater in den Hungerturm werfen lassen, weil er nicht gleich den Hauszins bezahlen konnte, und unser Vater hätte es ja gern getan, aber der war so lange krank und hat nicht mehr verdient. Gute Frau Bornematzen, hilf uns doch in unserer Not!“ „Nun, wenn das so ist“, entgegnete Frau Bornematzen, „dann soll euch geholfen werden. Geht nur heim! Heute Abend habt ihr euren Vater wieder.“ „Wie bist du so gut, Frau Bornematzen! Habt tausend Dank!“ Und heim eilten die beiden Kinder.

Abends saß der Lehnrichter Pietsch daheim so ganz allein bei einem Krug Bier und guckte sinnend vor sich hin. Er mochte wohl an den armen Nachbar denken, den er vor wenigen Stunden in den Hungerturm hatte werfen lassen.

Da vernahm er plötzlich draußen vor der Tür ein leises Trippeln und Trappeln wie von Kinderfüßen. Verwundert horchte er auf. Schon öffnete sich die Stubentür und herein kamen an ein Dutzend kleine Leute mit langen, grauen Bärten. Die sprangen auf ihn zu, zwickten und zwackten den Lehnrichter an den Beinen und Armen und Ohren und zupften ihn an den Haaren. Er vermochte nicht, sich ihrer zu wehren. „Was wollt ihr, kleines Pack?“ schrie er sie an. Die sprachen: „Du hartherziger Mann! Den armen Schuhmacher hast du in den Hungerturm sperren lassen, weil er nicht bezahlen konnte. Pfui, schäme dich! Gleich lässt du ihn heraus. Wenn nicht, dann plagen wir dich bis zum jüngsten Tage!“

Der Lehnrichter weigerte sich jedoch, das zu tun. Da aber zwickten ihn die Männlein so arg, dass Pietsch laut aufschrie und versprach, den Gefangenen freizugeben. Er rief seinen Diener. Der musste den Schuhmacher herauslassen. Nun erst verschwanden die Quälgeister.